HORS D’ÉCHELLE
Solothurn, 2014
Das Fotoporträt, auf dem sich Silvie Defraoui in der Form eines Schattenbildes zeigt, ist 2014 im Kunstmuseum Solothurn entstanden, anlässlich ihrer Einzelausstellung Und überdies Projektionen (Archives du futur). Um Projektionen im doppelten Sinne geht es auch in der inszenierten Fotografie: Das Schattenbild der Künstlerin zeichnet sich durch das Licht ab, das ein Beamer auf einen transparenten Screen wirft. Die Dargestellte befindet sich hinter der durchleuchteten Stoffbahn, dreht uns den Rücken zu und blickt in Richtung der Lichtquelle. Daraus ergibt sich die trügerische Vorstellung, die Frau auf der Leiter schaue in einen vor ihr – und uns – sich öffnenden Innenraum. Die dunkle Silhouette gibt von der porträtierten Person so wenig preis, dass die Betrachtung der Fotografie selbst zur blossen Projektion, zur Mutmassung wird. Bei der Kulisse handelt es sich um ein Standbild aus Silvie Defraouis Video Résonances et courant d’air (2009). Der Film zeigt den Gang durch ein altes, menschenleeres Landhaus, in dem sich der Betrachter als einsamer Gast fühlt. In der Fotografie wird die Urheberin der Videobilder nun selbst zur Bewohnerin, wenn auch in auffallender Distanz, sowohl zu uns als auch zum Raum, dem sie – in halber Höhe stehend – kaum verbunden ist. Eher scheint ihr Interesse dem Aussenraum zu gelten, den wir hinter dem hochgelegenen Jalousien-Fenster vermuten.
Zu den bekanntesten Rückenfiguren der Kunstgeschichte gehören die ruhenden Wanderer von Caspar David Friedrich. Die Suggestion des Wartens und Erwartens verleiht seinen Gemälden etwas Bühnenhaftes, das auch bei Silvie Defraouis Inszenierung mitschwingt. Dazu gehört auch, dass die Projektion als Bild im Bild betont und gerahmt wird. Die Stoffbahn, auf die der Videofilm im Kunstmuseum Solothurn projiziert wurde, war in eine grosse, den Saal in zwei Hälften teilende Wand integriert. So kommt es im Fotoporträt zu einer Verbindung verschiedener Raum- und Realitätsebenen. Das Indirekte wird auch in Résonances et courant d’air zum Thema. In der Tonspur des Videos hören wir das Zuschlagen von Türen und Fenstern, das im stillen Haus nicht von Menschenhand, sondern durch den Wind erfolgt.
Der Titel der Fotografie, Hors d’Échelle, ist sprechend: Er bezieht sich nur vordergründig auf die im Bild sichtbare Bockleiter, die die Künstlerin für den Aufbau ihrer Ausstellung nutzte, wichtiger ist die zweite Bedeutung des Begriffs, mit dem in der Kartographie der Massstab gemeint ist, nach dem die dreidimensionale Welt zum zweidimensionalen Bild verkleinert wird. Sowohl Landkarten wie Kunstwerke sind Modelle, die die erlebte Wirklichkeit in mehrfach gebrochener Weise spiegeln. Dass sich die Künstlerin nur im Schattenbild zeigt, kann sich auf diese Vorstellung des Mittelbaren beziehen, mehr noch aber auf ihre spezifische Haltung, aus der sie nicht sich selbst, sondern ihre Arbeit ins Zentrum stellt. Dabei fungiert sie als Mittlerin, die der Distanzierung bedarf und ihren Platz – wie auf dem Fotoporträt Hors d’Échelle – hinter dem Kunstwerk sieht. Gerade dadurch lädt sie das Publikum ein, sich seine eigenen Projektionen zu machen.
Christoph Vögele