Not Vital

TUESDAY AFTERNOON
Sent, 2018

Ein schöner, sanfter Schlitten zum Beispiel. Drei Paar Stützen, vier solide Leisten, zwei dicke Holme, die den Aufbau über den Kufen wie ein satt klingendes Orchester tragen. Dick wirkt er und flauschig, der Schlitten, obwohl er aus Marmor ist. Anscheinend hat der Schnee so lange auf den Leisten und Holmen gelegen, bis sich das Holz in weichen Stein verwandelt hat.

Not Vital spielt mit Geschichten, mit Bräuchen, mit Silber, mit Gold. Es geht um Archaisches, zum Beispiel um Köpfe, die wie Trophäen auf Stangen stecken. Um Geburtstage, deren Daten sich in den Maßen von Silberkuben niederschlagen. Um Zeichen, die verblüffen, nicht nur ihrer Bedeutung, sondern auch ihres Mutterwitzes wegen. Das Schwere wirkt leicht. Kulturelle und klimatische Extreme sind zum Kurzschluss zusammengeschweißt. Architektur wird Skulptur, Skulpturen kann man wie Häuser begehen. Ein Welt-Tier, ein Rad-Tier und ein Pfahl-Tier standen am Anfang. Eine Dinosauriergestalt trug auf ihrem Rücken einen Gebirgspfad aus Nägeln und Draht. Im Verlauf der Jahrzehnte sind Skulpturen mit Hörnern, Augen, Ohren und Nasen hinzugekommen. Sinnesorgane aus Bronze hängen wie Früchte an Zweigen aus Gips. Immer wieder, zum Beispiel bei den Abgüssen von Kamelköpfen auf Metallstangen, spießen die Werke das Leben auf. Sie sind tragisch, aber ohne Narration.

Die Zunge ist mein Maßstab, sagt Not Vital zu einem weiteren Organ, das er bereits seit 1985 verwendet. Seine Zungen, ob in Bronze oder Stein, werden phallisch aufgerichtet, wie der berühmte Omphalos, das Sinnbild für den Nabel der Welt. Während ihres Studiums sollen angehende Ärzte in China Tausende herausgestreckter Zungen inspizieren, sagt Vital. Bei ihm ist die Zunge, die in ihrer größten Fassung 780 Zentimeter erreicht, so etwas wie ein nachhaltiger Affront. Von zehn Studenten an der Kunstakademie in Kairo hat er in den späten 1980er-Jahren Nasenabdrücke genommen, nachdem er von ihnen gefragt worden war, was die Skulptur denn sei.

Das Archaische ist bei Vital zeitgenössisch. Dem Empfinden, auch dem Schmerz, fügt er, wenn möglich, Lust hinzu. 1990 hat er vom ersten großen Honorar ein Goldenes Kalb geschaffen, indem er teures Goldblech behämmerte und aus Leibeskräften verbog. Die Leute aus Sent, seinem Schweizer Heimatort, seien Esel, hatte man ihm als Kind erzählt. Folglich hat er in seinem Skulpturenpark im Engadin, den er seit Jahren anlegt, mit Eselsköpfen auf Stangen eine lange, zweiteilige Brücke gebaut. Das Bauwerk überspannt eine sechs Meter tiefe Schlucht.

Vital stellt Phänomene vor, deren Surrealismus sowohl Bräuche von Ahnen als auch Einsichten in die Zukunft wachruft. Nicht dem späten, sondern dem frühen Alberto Giacometti huldigt er. Das Groteske, das körperlich Entwaffnende stehen im Vordergrund. Es geht weniger um Formen als um das Erleben, vielleicht um die ewige Wiederkehr des Gleichen. Am besten, wir stehen bei Not Vital auf unserem eigenen Kopf.                                                                                                          

Thomas Kellein