Lutz & Guggisberg

LUTZ & GUGGISBERG VOR DER SERIE GROSSE MALER
Zurich, 2019

Aus der Ursuppe aller möglichen Bilder tauchen zwei Gestalten auf, nur unscharf sind sie zu erkennen. Erscheinen sie erst oder treten sie schon wieder ab? Fest steht: Da bewegt sich etwas. Das Statische der Fotografie wird hier zum Ereignisraum. Aber Achtung, es herrscht eine unsichere Wetterlage: Wer ist wo und wann? Und wer ist wer und wie viele? Sind Andres Lutz und Anders Guggisberg gar andere, als sie zu sein vorgeben? Sind sie Golem und Tannenbert? Spielen sie Figuren aus ihrem künstlerischen Universum? Oder spielen sie Künstler? Zum Beispiel «Grosse Maler», wie die Gruppe von Gemälden heisst, die wir im Hintergrund sehen?

Die Bilder zieren Umschläge fiktiver Kunstbücher und gehören zur Serie der «imaginären Bibliothek» des Duos. Auf dem vorliegenden Foto bilden diese rhizomatischen Querverweise in eine frei erfundene Kunstgeschichte gleichsam die statische Kulisse, während im Vordergrund alles vibriert. Der Lichtschweif der Kerze von Anders Guggisberg, die Streifen des T-Shirts von Andres Lutz, das Schwarzweiss-Muster der Trommeln. Unsere Augen sind haltlos entwurzelt. Verkehrte Welt: Die Fiktion (die Kunst) schafft ein festes Koordinatensystem, während die Realität (die Künstler) zu einem halluzinogenen Spektakel wird. Wir möchten dem Geschehen auf der Bühne folgen, wir möchten es scharf stellen, um dem opaken Chaos einen Sinn zu verleihen. Vergeblich.

Um das Bild zu lesen, müssen wir den sicheren Standpunkt der Aussenstehenden verlassen. Wir müssen zur Kerze werden und uns mit Anders Guggisberg um die eigene Achse drehen, zu den Schlagzeugsticks mutieren, mit denen Andres Lutz die Instrumente zum Vibrieren bringt. Dann beginnt das Bild blitzlichtartig zu tanzen und zu tönen. Erst, wenn wir Teil des Geschehens werden, wohnen wir der Schöpfung des Bildkosmos bei. Das Foto funktioniert – wie die Kunst von Lutz & Guggisberg übrigens auch – wie ein schamanistisches Ritual. Es erzeugt Schicht um Schicht eine eigene Ordnung. «Bricolage» nannte der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss in seinem Werk «Das wilde Denken» (1962) dieses Verfahren. Es ist ein treffender Ausdruck, um die Arbeit von Lutz & Guggisberg zu beschreiben. Aus der Urbuchstabensuppe ersinnen die beiden Zürcher Künstler immer wieder neue hybride Kreationen, die das Bekannte auf den Kopf stellen. Als Betrachtende ihrer Kunst wandeln wir mit ihnen kopfüber durch die Welt. «Wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich».[1]

Susanna Koeberle


[1] Paul Celan (1960), «Der Meridian. Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises», in: Paul Celan, Gesammelte Werke, dritter Band, Frankfurt am Main, Suhrkamp, S. 195.