Ursula Hodel

TURNING POINT
Zurich, 2016

Als Kasseläner muss ich bei diesem Bild an Allerleirauh denken: Ein altdeutsches Märchen, in dem der König seine Tochter heiraten möchte, weil allein sie an den Liebreiz seiner verstorbenen Frau heranreicht. Exemplarisch für ihre Schönheit beschreiben die Brüder Grimm die goldene Farbe ihres Haars, denn Wasserstoffperoxid kannten sie noch nicht. Um den Vater abzuwehren, denkt sich die Prinzessin unerfüllbare Wünsche aus, darunter einen Mantel aus „tausenderlei Pelz- und Rauchwerk zusammengesetzt“. Er dient ihr als Tarnung, als sie auf dem Höhepunkt des Konflikts untertaucht.

In „Turning Point“ (2016) zeigt uns der Fotograf keine minderjährige Prinzessin auf der Flucht, sondern eine reife Königin, die in der Erfüllung ihrer Wünsche nicht länger von Königen, überhaupt von Männern, abhängig ist. Stark und stolz regiert sie über die Küstenlinie, natürlich die goldene Seite dieses Gewässers. Ihre Flotte liegt zu ihren Füssen vertäut, doch wird sie niemals gebraucht, diese Herrscherin muss nicht mehr kämpfen. Im guten Ende der Grimms fällt die Verkleidung der Prinzessin, und sie bekommt einen Königssohn, den sie mit ihren Kochkünsten gefügig gemacht hat. Auf all das kann unsere Königin verzichten. Sie verfügt über ein anderes Instrumentarium, spielt virtuos auf der Klaviatur der Kommunikationsmittel – Bildende Kunst, Musik, Design und, wie sie hier unangefochten, unanfechtbar demonstriert, Mode. Wird der Betrachter in ihren Palast vorgelassen, findet er die kuratierten Gemächer einer Künstlerin, gefüllt mit den Werken der besten ihrer Zunft, der grössten ihrer Zeit. Und mit ihren eigenen, wie auch die Genese des luxuriösen Kokons allein ihr Werk ist.

Für ihr Portrait hat sich unsere Königin klassisch inszeniert, in der Tradition ihrer Vorfahrinnen. Der vegetabile Säulenstumpf zitiert antike Vorbilder und demonstriert Anciennität, die Pose Standhaftigkeit; der klimmende, immergrüne Efeu wird in der christlichen Pflanzensymbolik als Zeichen der Treue und der Unsterblichkeit, ja, des ewigen Lebens interpretiert. Paradiesdarstellungen der Renaissance zeigen zuweilen eine Eva, deren Scham durch eine Weintraube verhüllt wird, als Gegensatz zum Feigenblatt ihres Mannes. Unsere Königin braucht keinen Adam neben sich, sondern erwählt das fünffingerige Weinblatt, seit hellenistischen Zeiten das Symbol der Erdgöttin Rea, als ausdrucksstarkes Emblem, goldene Zier und metallener Schutz zugleich. Ihr „Rauchwerk“ schliesslich, das stammt von den besten Kürschnern aller Königreiche, der Florentiner Werkstatt Gucci. Denn sie überschreitet Grenzen leichtfüssig, das signalisiert ihr Siebenmeilen-Schuhwerk, mehr noch ihre internationale Aufgeklärtheit. Und wenn sie die verspiegelte Brille abnimmt, erscheinen dahinter die klaren blauen Augen der Prinzessin, die sie nie sein musste, um die Frau zu werden, die sie heute ist.                                                                                                                                

Dirk Boll