OHNE TITEL
Weissbad, 2006
Zuerst setzt er sich die abgesägte Spitze eines Kajaks über Kopf und Schultern, dann geht Roman Signer vorsichtig zum Uferrand und steigt in den Weissbach. Plötzlich spürt er die Strömung. Der Untergrund ist voller rutschiger Steine. Jeder Schritt muss bedacht werden. Zu sehen sind nur die eigenen Füsse. Das Kanu verlängert die Figur und verlagert den Schwerpunkt. Eine unvorsichtige Bewegung kann den Künstler von den Füssen holen und ins Wasser werfen. Was geschieht dann? Die Arme sind unter dem Bootskörper wenig beweglich, ein rettendes Rudern ist kaum möglich. Roman Signer kann sich allenfalls flussabwärts fallen lassen, damit die Strömung das Kajak nicht auf ihn drückt. Er hat die Gefahr zuvor nicht abschätzen können, auch wenn er das Gewässer kennt.
In Weissbad im Appenzellerland hat er über die Jahre viele Arbeiten realisiert. Und er weiss über die Kraft des Wassers Bescheid. Das Haus seiner Eltern stand an der Sitter in Appenzell. Wenn der reissende Fluss in stürmischen Nächten Holz und Steine mitführte, haben gelegentlich die Wände gezittert. Roman Signer ist gewissermassen ein Sohn des Wassers, sein Werk eine vielstimmige Beschwörung. Mit zarten Tönen, mit listigen Versuchsanordnungen, mit riskanten Manövern hat er es immer wieder zum Klingen gebracht, hat sich an seine Kraft angeschmiegt, ihm Geheimnisse entlockt und uns seine Schönheiten erleben lassen. Wie ruhig und gewaltig eine Strömung sein kann, wie majestätisch ein Fliessen, neben dem einer sich im Kajak über einen Weg ziehen lässt. Und natürlich hat der Künstler auch das Gegenteil gebändigt: Roman Signer ist nicht nur Herr über das liquide Element, sondern auch über das Feuer, über die berstende, explodierende Energie, der er in Raketen und Geschwindigkeit Raum verschafft.
Trotz all dieser Erfahrung war er von der Kraft des Elements überrascht, als er 2006 mit seinen Wasserstiefeln in den Weissbach stieg und sich plötzlich existenziell herausgefordert sah. Da war sie wieder, die Grenzerfahrung, die man vielen seiner Werke nicht auf den ersten Blick ansieht, die sie aber bestimmt, die seine Kunst zu einer der wichtigsten Aussagen zu den Bedingungen macht, unter denen wir leben. Der Künstler steht gerade da, souverän. Ein schönes Foto. Doch ist es grösster Gefahr abgerungen. Der Künstler setzt sich aus, reduziert die eigene Sicht fast bis zur Blendung, um seinen Körper zum Wahrnehmungsinstrument und uns sehend zu machen. Das hat in seinem Werk eine lange Tradition. Da ist der Einbruch ins Eis, den er knapp überstanden hat, da sind die Explosionen von Farbe für den Biennale-Auftritt in Venedig, die ihn geblendet haben, da ist auch die Erinnerung an den Verlust eines Freundes, der beim Kajak-Sport sein Leben gelassen hat. Die Kajak-Spitze ist eine rote Mütze, die Not und Gefahr unter einem Bild der Freude verbirgt – und so vieldeutig ist wie Roman Signers Kunst.
Gerhard Mack