MADONNA DEL SASSO
Orselina, 2014
Eine Frau
sehr hell und ganz in Schwarz, eine K-Ki-Kindfrau
die ich nur ganz kurz – zuerst von der Seite und gleich darauf,
im Rückspiegel, von vorn – sehen kann
wird mir … bleibt mir unvergesslich
ja … ach! ein göttliches, vielleicht ein gefallenes Mädchen
ah! in der Kleidung, in der Pose, in der Drehung einer
Tänzerin
unklar, ob sie grade eben, hier und jetzt, ganz sacht gelandet
ist oder …
… oder ob sie in diesem Augenblick abhebt – sich abhebt von
der betonierten Bühne, aus dem Stand, mit geschlossenen
Beinen, den hellen Kopf ohne Anstrengung gereckt, die
blonde Haarflut mit einem kaum merklichen Nicken der
Schwerkraft entziehend
abhebt zu einem Sprung, der zum Flug werden soll
wie schön lässt sie die Arme von den Schultern gleiten,
zugleich mit grossen Händen den weiten Glockenrock wie
einen Fallschirm öffnend
sieht aus, als hinge sie schwerelos, nur mit den Fussspitzen
den Grund berührend, in der Schwebe, unwissend noch, in
welche Richtung und in welche Höhe sie nun gleich gerufen
wird
so scheint sie sich liebend zu verschleudern, kraftvoll und
sanft, und gleich wird der Ruf (aber wessen Ruf?)
sie erreichen
noch kontrastiert ihre Zierlichkeit und Leichtigkeit mit dem
massiven Gemäuer, das als Kulisse den Hintergrund bildet
und die Szene ziemlich pathetisch theatralisiert
doch – was allzu kurz in meinem linken, dann nochmals im
rechten Rückspiegel aufscheint, ist ein ganz realer, nach Ort
und Zeit genau bestimmbarer Ausschnitt aus der Alltagswelt,
der sie und ich gleichermassen angehören und … aber wie lange noch?
Felix Philipp Ingold